Experten-Interview zu Industrie 4.0

Professor Dr. Jörg Wollert lehrt an der Fachhochschule Aachen. Sein Lehr- und Forschungsgebiet sind Mechatronik und Eingebettete Systeme.

  1. Industrie 4.0 ist ein Zukunftskonzept, aber auch schon ein Stück Realität. Welche neuen Entwicklungen konnten Sie im vergangenen Jahr beobachten?

Aus meiner Sicht sind drei Trends erkennbar:

    1. Die Industrie hat verstanden, dass man nicht mehr alleine ist. In vielen Branchen ist das kollaborative Zusammenarbeiten schon heute notwendig, beispielsweise in der Automobilindustrie: Hier sind schon heute Zulieferer in die Entwicklung einbezogen und es wird – zumindest in Europa – eine 1-Stück Produktion realisiert. Das ist angekommen. Hier ist Potential vorhanden, das auch auf den allgemeinen Maschinenbau übertragen werden kann. 
    2. Die Maschinen- und Anlagenbauer denken stärker über Schnittstellen und Zusammenarbeit nach. Das ist gut und richtig. Um übergeordnete Prozesse und Prozessabläufe zu koordinieren sind einheitliche Protokolle und Kommunikationssystematiken notwendig. Hier kann man erkennen, dass neue Konzepte eine breitere Basis treffen.
    3. In dem Kontext spielt das Thema Security – also Daten Sicherheit – eine große Rolle. Auch hier ist ein Umdenken zu beobachten, so dass das Sicherheitsbewusstsein in der Automatisierungstechnik deutlich steigt.

Eigentlich könnte man die Liste fortsetzen. Je mehr Gedanken man sich über das Thema Industrie 4.0 macht, desto mehr fällt einem ein. Das ist auch die Gefahr:  viele erwarten den Big Bang, aber die Revolution vollzieht sich in kleinen Schritten.

  1. Sie lehren an der Fachhochschule Aachen im Fachbereich Maschinenbau und Mechatronik. Wie bereiten Sie Ihre Studierenden auf die Herausforderungen von Industrie 4.0 in ihrem Berufsleben vor?

Um die Ideen Industrie 4.0 zu verstehen, ist zunächst ein grundlegendes Verständnis von Werkstoffkunde, Konstruktions- und Automatisierungstechnik erforderlich, ebenso BWL-Kenntnisse. Das schaffen wir durch eine fundierte Ausbildung im Maschinenbau und in der Mechatronik. Das herausragende Ranking der FH-Aachen zeigt, dass wir schon gut ausbilden. Speziell für Industrie 4.0 bieten wir Vertiefungsrichtungen an, zum Beispiel zu den Themen „Generative Fertigungsverfahren (3D-Druck)“, „Fertigungsgerechte Konstruktion“ oder „Verbindungstechnik“. Ich halte eine Lehrveranstaltung „Einführung in Industrie 4.0“. Auch in der Veranstaltung „Mechatronische Systeme“ versuche ich den Studierenden einen Einblick in die Prozesse, Infrastrukturen und Technologien rund um Industrie 4.0 zu gewähren.

  1. Stand heute sind keine Normen definiert, welche Technik in einer Produktionsanlage enthalten sein muss, damit es Industrie 4.0 wird. Was muss Ihrer Meinung nach technisch enthalten sein, um von einer Industrie 4.0 Produktion sprechen zu können?

So stimmt das nicht. Die Arbeitskreise der Plattform Industrie 4.0 arbeiten intensiv an einer Standardisierung auf allen Ebenen. Das Besondere dabei ist, dass nicht neue Standards entwickelt, sondern Profile wie bestehende ISO, IEEE oder sonstige Standards genutzt werden. Wir haben bereits die Technologien um die Visionen Industrie 4.0  realisieren zu können. Allerdings fehlt uns in Europa der Pragmatismus, die Technologien eines Marktführers als Standard zu akzeptieren. Ein gutes Beispiel ist hier SAP: Sicherlich werden hier alle Bausteine für leistungsfähige ERP Systeme angeboten. Auch die Schnittstellen und Infrastrukturen sind extrem leistungsfähig. Aber wir wollen in Europa keinen Herstellermarkt. Das ist in anderen Bereichen der Welt anders.

Ganz konkret: Wir haben alle Bausteine, die eine Industrie 4.0 Produktion erfordert. Wir müssen lernen sie geeignet und vor allem transparent zu orchestrieren.

  1. Wie sehen Sie die Situation auf dem Markt? Welche Länder sind führend in Industrie 4.0?

Wir sind mit Industrie 4.0 nicht alleine auf der Welt. Im globalen Kontext ist Industrie 4.0 eher eine Reaktion auf das, was im US-Markt in den letzten Jahren passiert. 1988 startete der Wissenschaftler Mark Weiser mit seinen Visionen zum allgegenwärtigen Computing. 1999 prägte der Technologie-Pionier Kevin Ashton den Begriff des „Internet of Things“. 2006 erwähnte Helen Gill in einer Abhandlung das erste Mal die „Cyber Physical Systems“. Auch die Entwicklungen von Plattformen rund um internetbasierte vernetzte Produktion ist ein US-Thema. 2010 startete die smart Process Manufacturing Organization. Die US-Regierung stützt die SMLC (Smart Manufacturing Leadership Coalition) mit über 500 Millionen Dollar in 2012. Hier wird deutlich, wer die Global Player sind. Unsere deutsche Industrie 4.0 Initiative ist eher eine Reaktion auf die allgemeinen Entwicklungen. Und das ist uns gut geglückt, zumindest wurden manche Konzepte und Ideen in das IIC (Industrial Internet Consortium) 2014 integriert. Auch unser Marketing war hier gut.

  1. Wird Industrie 4.0 die angekündigten Wettbewerbsvorteile für den Produktionsstandort Deutschland bringen?

Das hoffen wir. Ich persönlich glaube, dass eine Volkswirtschaft nicht alleine mit Dienstleistung überleben kann. Produktion ist damit von größter Bedeutung. Wenn wir es schaffen unsere flexiblen und innovativen Mittelständler zu vernetzen, sie zu Global Playern zu machen die kosteneffizient produzieren, dann haben wir alles richtig gemacht. Alles was dazu beiträgt Deutschland als Produktionsstandort zu halten – für alle Bereiche der Wirtschaftsgüter, nicht nur das Hochpreissegment – ist gut. Wenn das Label Industrie 4.0 dabei hilft: umso besser. Wenn ich auf die aktuellen Entwicklungen schaue, meine Gespräche mit kleinen und großen Unternehmen analysiere, dann würde ich schon sagen, dass eine konstruktive Bewegung vorhanden ist. Wir müssen nicht darauf setzen in allem die ersten zu sein. Es reicht, wenn die Standorte Deutschland und Europa für die Beschäftigung und Produktion gesichert wird.

  1. Sehen Sie auch Nachteile durch Industrie 4.0?

Wir müssen aufpassen, dass wir die sozialen Aspekte nicht vergessen. Einen Erfolg werden alle Initiativen haben, wenn wir den Menschen mitnehmen. Es geht um Unterstützung und nicht um Ersatz der Produktionsarbeiter. Der Mensch soll produktiv sein ohne ausgebeutet zu werden. Hier kann sinnvoll eingesetzte Technik helfen. Wir sollten unsere mittelständische Industrie beobachten und diese stärken. Wenige Global Player und Monopolisierung ist wenig hilfreich. Die Stärke des Industriestandorts Deutschland sind die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die hidden Champions auf dem Weltmarkt. Eine rücksichtslose Globalisierung wird diese zerstören. Alles gleich machen wird nicht helfen, alles ersetzbar machen auch nicht. Hier ist ein nachhaltiger volkswirtschaftlicher Weg gefragt. Das müssen wir in der Gestaltung von Industrie 4.0 berücksichtigen. Das macht die Stärke der Wirtschaftsregion Deutschland aus. Andererseits sollten wir auch furchtlos in die Realisierung gehen. Made in Germany ist ein fragiler Begriff – wir sollten verantwortlich damit umgehen.

Vielen Dank für das Gespräch, Professor Wollert!

Wenn auch Sie Studierende zu Experten der Industrie 4.0 ausbilden wollen, finden Sie hier das Trainingssystem Industrie 4.0 von Lucas-Nülle.

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