Kfz-Technik

Interview: Fahrerassistenz-Systeme und ihre Bedeutung für die Aus- und Weiterbildung

Als Leiter Politik Berlin der Audi AG analysiert Dr.-Ing. Thomas Schwarz auch gesetzliche Rahmenbedingungen und politische Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr.

Gleichzeitig vermittelt er als Dozent der HTW Berlin Wissen über die Entwicklung von Fahrerassistenz-Systemen hin zum autonomen Fahren an Studierende der Fahrzeugtechnik. Wir haben mit ihm über die Technologien, deren Zukunft und ihre Bedeutung für die Aus- und Weiterbildung gesprochen.

Hallo Herr Dr. Schwarz, welche Bedeutung haben Fahrerassistenz-Systeme aktuell für den Straßenverkehr und worin besteht ihr zentraler Mehrwert?

Thomas Schwarz: „Schon heute haben die Fahrerassistenz-Systeme einen hohen positiven Effekt auf den Straßenverkehr. Allen voran gilt das beispielsweise für ESP, welches aktuell die höchste Wirksamkeit eines aktiven Sicherheitssystems bietet und mittlerweile auch gesetzlich verpflichtender Standard für Neuwagen ist. Die Sicherheit ist demnach einer der zentralen Mehrwerte. Unsere Vision sollte darin bestehen, dass es keine Verkehrstoten mehr gibt. Auch wenn sich diese Vision nicht absolut erreichen lässt, müssen möglichst alle Bestrebungen in diese Richtung führen. Neben der Sicherheit gibt es mit den Themen Effizienz und Komfort aber noch zwei weitere, nicht weniger wichtige Mehrwerte der Technologien.“

Können Sie beide Punkte etwas näher ausführen?

Thomas Schwarz: „Gern. Wenn wir über Effizienz reden, müssen wir den Blick allerdings über die Assistenzsysteme hinaus lenken und sie als Teil größerer Veränderungsprozesse begreifen. Als Teil einer vernetzten Infrastruktur könnten Fahrzeuge ressourcenschonender durch den Verkehr navigieren. Außerdem können automatisierte Fahrzeuge die Kosten für öffentliche Transportmittel senken. Mit solchen Überlegungen ließen sich Bücher füllen. Deutschland will bis 2050 einen klimaneutralen Straßenverkehr erreichen und die Automatisierung, die aus der Vernetzung der Assistenten entsteht, ist ein wichtiger Baustein dieses Vorhabens. Bleibt noch der Komfort: Bisherige Untersuchungen belegen, dass der Fahrer schon heute durch Assistenzsysteme stark entlastet wird. Der größtmögliche Komfort wäre in bestimmten Situationen, in denen der Fahrer z. B. im Stau nicht selbst fahren möchte, natürlich das vollautonome Fahrzeug.“

 

„Selbst wenn uns die Veränderungen des Straßenverkehrs in den kommenden Jahren eher gering erscheinen, übertreffen die langfristigen Effekte der Digitalisierung unsere heutigen Vorstellungen wahrscheinlich noch.“

Dr.-Ing. Thomas Schwarz,Leiter Politik Berlin der Audi AG; Dozent für ADAS an der HTW Berlin

 

Wie weit sind wir auf diesem Weg zum vollautonomen Fahren?

Thomas Schwarz: „Die Technologie gibt es. In der industriellen Produktion sind autonome Fahrzeuge bereits im Einsatz, allerdings im niedrigen Geschwindigkeitsbereich, auf abgegrenzten Gebieten mit trainiertem Personal etc. Und auch die Pilotprojekte‧auf der Straße laufen nun schon länger.‧

Diese Erprobung zeigt uns derzeit noch die verbleibenden Herausforderungen auf, um auch das letzte Prozent schwieriger Situationen technisch zu beherrschen. Die praktische Erprobung unterstützt die evolutionäre Weiterentwicklung hin zur Autonomie. Sie muss jedoch immer von einer simulativen, theoretischen Erprobung begleitet werden.

Neben der Technologie überwiegen aktuell aber vor allem die rechtlichen und gesellschaftlichen Hürden. Und auch die Infrastruktur muss angepasst werden. Hier geht es aber vorwärts, wie das Beispiel ‚Ampelinfo-Online‘ von Audi zeigt: Damit lassen sich der Komfort für den Fahrer verbessern, die Sicherheit im Verkehr erhöhen und ein vorausschauender, ökonomischer Fahrstil fördern. Dafür muss ein Algorithmus prognostizieren, wie sich die Ampeln in den nächsten zwei Minuten verhalten. Da die meisten Signale variabel auf das Verkehrsaufkommen reagieren und die Schaltintervalle anpassen, werden Prognosen aus verschiedenen Datenquellen errechnet. Umgekehrt können den Städten aggregierte Daten der Fahrzeuge zur Verfügung gestellt werden, mit denen sich Ampelschaltungen effizienter schalten lassen, damit der Verkehr besser fließt. ”

In welchem Zeitraum könnte sich diese Entwicklung abspielen?

Thomas Schwarz: „Das Tempo nimmt jedenfalls zu und wird sich, entsprechend des mooreschen Gesetzes, weiter beschleunigen. Ein Schwerpunkt liegt auf der Softwareentwicklung, die auf bestehender Hardware weitere neue Funktionalitäten ermöglicht. Wenn wir auf die Autonomiestufen blicken, befinden sich aktuell maximal Level-2-Systeme im Verkehr, also der Fahrer hat zu jedem Zeitpunkt die Verantwortung. Wir stehen kurz davor, eine große Hürde, nämlich den Sprung auf Level 3, zu überwinden. Dann kann sich der Fahrer in bestimmten Situationen von der Fahraufgabe abwenden und die Verantwortung an das Fahrzeug abgeben. Und ich glaube, dass wir in dieser Dekade noch Level 4 erleben werden und Fahrzeuge in spezifischen Anwendungsfällen komplett die Fahraufgabe übernehmen können.“

Und Level 5 im Straßenverkehr?

Thomas Schwarz: „Das kann niemand seriös sagen. Aktuell steigt das mittlere Alter der Flotte, also aller in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge. Je schneller sich die Flotte aber erneuert, desto schneller geht auch die Entwicklung zum autonomen Fahren. Um die Antwort nicht ganz schuldig zu bleiben hilft vielleicht ein Blick auf ‘Amaras Law’. Roy Amara postulierte, dass wir die Auswirkung technischer Innovation kurzfristig überschätzen, langfristig hingegen eher unterschätzen. Sprich selbst wenn die Veränderungen im Straßenverkehr uns in den kommenden Jahren eher gering erscheinen, übertrifft der langfristige Effekt unsere heutigen Vorstellungen wahrscheinlich noch. Bei der Elektromobilität erleben wir dies gerade auch. Nach einer ersten Euphorie folgte Mitte der 2010er Jahre eine gewisse Ernüchterung. Und heute sind sich fast alle Entscheider einig, dass Elektrofahrzeuge im Pkw-Bereich den übergroßen Anteil einnehmen werden.“

Würden Sie einem bestimmten FAS eine herausragende Rolle in diesem Prozess zusprechen?

Thomas Schwarz: „Definitiv nein. Denn die Stärke liegt nicht im einzelnen System oder im einzelnen Sensor, sondern in der Verknüpfung der Systeme. Wenn es also eine herausragende Bedeutung gibt, hat diese die Software, die das digitalvernetzte Gesamtsystem bildet und nicht das einzelne Fahrerassistenz-System. Allenfalls mag man vielleicht ESP als ‘Botschafter’ der Systeme herausheben. Der reale Mehrwert an Sicherheit, den dieses aktive Sicherheitssystem für den Straßenverkehr erreicht hat, ist entwaffnend in seiner Überzeugungskraft.“

 



Als Lehrbeauftragter an der HTW Berlin ist eines Ihrer Themen: ‘Fahrerassistenz-Systeme und Integrale Sicherheit’. Wie vermitteln Sie das Thema an Studierende?

Thomas Schwarz: „Wir sprechen über die einzelnen elektronischen Systeme und deren Wirkungsweisen. Und natürlich reden wir über den Weg von der Sensorik bis zum automatisierten Fahren. Letztlich also über alles, worüber wir gerade auch schon in Ansätzen gesprochen haben. Hinzu kommt die Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle als wichtiger weiterer Baustein. Denn auch das Interface muss an die Entwicklungen angepasst werden. Nicht zuletzt thematisiert meine Lesung die eben erwähnten gesellschaftlichen, rechtlichen und infrastrukturellen Facetten.“

Also ein breiter Überblick über das gesamte Themenfeld?

Thomas Schwarz: „Genau. Leider reicht die Zeit eines Semesters nicht, um die Details der Entwicklung jedes Systems zu beleuchten. Hoffentlich gelingt es, den Studierenden das Potenzial der Fahrerassistenz im Straßenverkehr zu vermitteln und sie entwickeln Neugier und eine eigene Vorstellung davon, wie man die Entwicklung vorantreiben könnte.“

Haben Sie eine zentrale Botschaft?

Thomas Schwarz: „Ich hoffe eher, dass ganz viele wichtige Botschaften ankommen. Mit Blick auf die Sicherheit werde ich aber nicht müde zu betonen, dass die entscheidende Unfallursache meistens auf den Menschen zurückzuführen ist. Deshalb liegt das größte Potenzial der Systeme in der Fahrerunterstützung. Und indem wir die Technologie als Unterstützung nutzen, erreichen wir ja schließlich auch die anderen, eingangs genannten Vorteile: Steigerung von Effizienz und Komfort.“

Welchen Stellenwert messen Sie der Aus- und Weiterbildung für diesen Prozess bei?

Thomas Schwarz: „Ich kann da nur auf meine Erfahrungen bei Audi bzw. VW zurückgreifen. Auch für uns ist es eine Herausforderung, die eigenen Fachkräfte im Werk und in den Werkstätten zu qualifizieren. Die kontinuierliche Weiterentwicklung muss überall erfolgen. Wir bilden daher zum Beispiel immer mehr in den elektronischen Kompetenzen aus. Außerdem gibt Audi die Informationen aus der Entwicklung bereits vor der Markteinführung an die Werkstätten weiter, damit diese unsere Fahrzeuge kompetent im Feld betreuen können. Nicht zuletzt gibt es viele interne Programme zur Weiterbildung. Wir setzen zum Beispiel eine VR-Applikation ein, mit der man neue Fahrerassistenz-Systeme im realen Fahrzeug auf einer Freifläche erproben kann. Kurz gesagt: Ja, ich halte die Ausbildung für einen ganz wesentlichen Faktor für die praktische Umsetzung dieses Prozesses.“

Sind die Systeme auch für die Studenten praktisch erfahrbar?

Thomas Schwarz: „An der HTW steht den Studierenden ein mit einer Vielzahl an Assistenzsystemen ausgestatteter Audi S5 zur Verfügung, an dem sie Versuche durchführen können. Leider finde ich zu selten die Zeit, die Studierenden bei ihren Arbeiten dort zu begleiten. Ich merke bei diesen Gelegenheiten aber immer, dass das Interesse an den Fahrerassistenten sehr groß ist. Die neuesten sind ja oft im Premiumsegment verbaut und daher für viele Studenten nicht so leicht verfügbar.“

Nicht zuletzt benötigt die Arbeit mit den Systemen in einem realen Fahrzeug auch viel Raum. Lucas-Nülle hat daher Systeme entwickelt, welche die Assistenten auf einem Tisch praktisch erfahrbar machen. Können Sie sich vorstellen, dass eine solche Form der einfachen Praxisanwendung auch für Studierende interessant sein könnte?

Thomas Schwarz: „Die Praxisanwendung ist definitiv auch im Studium wichtig. Wenn die Studierenden an der Hardware erfahren können, wie unterschiedlich die verschiedenen Sensoren in der Praxis reagieren, können sie viel besser abschätzen, wie eine sinnvolle Vernetzung der Systeme gelingen kann. Und diese Vernetzung der Systeme ist wie gesagt das entscheidende Fundament der Automatisierung. Leider scheitert es manchmal an der begrenzten finanziellen Ausstattung der Hochschulen, deshalb können direkte Kooperationen mit der Industrie hilfreich sein.“

Abschließend sei ein wenig Utopie gestattet. Wenn Sie eine Vision des Straßenverkehrs in 10 oder 20 Jahren zeichnen dürften, wie sähe diese aus?

Thomas Schwarz: „Meine Vorstellung wäre ein stark multi- und intermodales Verkehrssystem, in dem wir viel öfter auf verschiedene Verkehrsmittel setzen. Und diese Verkehrsmittel wären möglichst perfekt miteinander vernetzt. Das automatisierte Fahren bildet einen wichtigen Baustein in diesem Szenario, unter anderem weil es den ÖPNV effizienter und günstiger macht. Ich bin überzeugt, dass verschiedene Verkehrsformen tatsächlich zu unterschiedlichen Zeiten und Zwecken an Bedeutung gewinnen werden. Und das ist gut. Denn die Versorgung wird dadurch insgesamt besser werden und wir können häufiger auf umweltfreundliche Mittel umsteigen. In der angesprochenen Zeitspanne werden wir bestimmt vollautomatisierte Fahrten ganz ohne Fahrer erleben. Ich denke da z. B. an Parkhaussysteme. Wir verlassen das Auto schon vor dem Parkhaus und den Rest erledigt die Technologie. 

Gleichzeitig sehe ich auch in 20 Jahren noch keinen vollautonomen Level-5-Straßenverkehr. Wir werden wohl noch sehr lange einen Mischverkehr zwischen autonomen Fahrstrecken und Menschen als Fahrende erleben.

In komplexen Situationen, wie z. B. dem Innenstadtverkehr, wo sich viele unterschiedliche Verkehrsteilnehmer bewegen und sich nicht immer regelkonform verhalten, stößt Technologie noch an ihre Grenzen. Wie übrigens der Mensch gelegentlich auch. Aber auch hier werden KI und maschinelles Lernen helfen, menschliche Antizipation technisch darstellen zu können bzw. wird uns die Technik irgendwann übertreffen.“

 

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